Vietnam-Notizen

Hinter den Reisfeldern (5): Ein alter Störenfried

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Wer an Vietnam denkt, erinnert sich an den Krieg damals oder an einen vergangenen Urlaub. Kaum aber jemand beachtet, wie dort ein kommunistisches Regime versucht, Marktwirtschaft mit den alten Traditionen zu verbinden. Blicke nach Fernost – eine Serie in fünf Teilen.

Die Anspannung verpufft, als Toan Pham lächelnd die Tür zu seiner Wohnung öffnet. Kein Aufpasser weit und breit. Die Behörden lassen ihn diesmal offenbar unbehelligt. Der alte Mann lebt in Hanoi in einem Hochhaus im siebten Stock. Das Licht drückt sich durch die herab gelassenen Jalousien, als er sich grünen Tee einschenkt. Obwohl 79 Jahre alt wirkt er unruhig wie ein junger Mann. Er spricht schnell, er versteht schnell. Seinem Äußeren aber ist das Alter anzusehen. Die Haare am Kopf sind verschwunden. Die Haut ist mit Flecken übersät. Für die Behörden ist der alte Mann ein Störenfried.

Pham schreibt in seinem Internet-Blog gegen eines der wichtigsten Projekte der Regierung an. Zusammen mit chinesischen Firmen soll Bauxit – ein Erz, das für die Produktion von Aluminium benötigt wird – in Zentralvietnam abgebaut werden. Menschenrechtsaktivisten, Regimekritiker und Umweltschützer kritisieren den wachsenden Einfluss Chinas und die Verschmutzung, die beim Abbau des giftigen Bauxits entsteht. Die Regierung sieht in dem Protest dagegen eine Kampagne. Deshalb standen im Mai plötzlich vier Polizisten vor Toan Phams Wohnungstür und nahmen ihn mit auf die Wache. Was folgte war ein 16-stündiges Verhör. „Ich habe keine Angst gehabt“, sagt der frühere Schullehrer. „Wenn sie mir etwas angetan hätten, dann wären sie jetzt in der schwächeren Position.“ Seinen Blog musste er aufgeben. Er hat aber schon längst einen neuen.

„In Vietnam muss man lustig oder entschärft formulieren“, beschreibt Pham seine Erfahrung. Andernfalls gehe man das Risiko ein, von der Polizei festgenommen zu werden. Gleichzeitig wende sich die Öffentlichkeit ab. „Die Menschen haben Angst vor den Behörden. Sie haben Angst, ihre berufliche Stellung, ihren kleinen Wohlstand zu verlieren.“

Human Rights Watch hat 400 Menschen gezählt, die aus politischen oder religiösen Gründen in vietnamesischen Gefängnissen sitzen. Presse- und Meinungsfreiheit gibt es nicht, auch nicht im Internet. Nachdem sich Gegner des Bauxit-Projekts im Web zusammengeschlossen hatten, sperrten die Behörden im November 2009 vorübergehend mehrere Online-Netzwerke, darunter Facebook. Im März 2010 kam es laut Google zu Hacker-Angriffen auf politische Blogs. Und die Software-Firma McAfee berichtete, dass Spionage-Software gezielt auf Rechner gespielt wurde. Beide Attacken richteten sich gegen Kritiker des Bauxit-Projekts.

Toan Pham rechnet nicht damit, dass sich die politischen Verhältnisse ändern werden. „Das Leben in Vietnam lehrt uns, geduldig zu sein.“ Die Staatsmacht ersticke jeden Protest im Keim. Deswegen vermeide er es, sich mit anderen Bauxit-Kritikern zusammenzuschließen. Es dürfe keine Verbindung geben. Toan Pham weiß: „Wer sich organisiert, wird sofort niedergeschmettert.“

Toan Pham

Toan Pham

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  1. Die alten Regeln
  2. Einsam in der Millionenstadt
  3. Die besten Noten als Ziel
  4. Den Krieg im Körper
  5. Ein alter Störenfried
  6. Hintergrund: Das Land Vietnam

Written by Fabian Schweyher

6. Oktober 2010 at 19:12

Hinter den Reisfeldern (4): Den Krieg im Körper

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Wer an Vietnam denkt, erinnert sich an den Krieg damals oder an einen vergangenen Urlaub. Kaum aber jemand beachtet, wie dort ein kommunistisches Regime versucht, Marktwirtschaft mit den alten Traditionen zu verbinden. Blicke nach Fernost – eine Serie in fünf Teilen.

Auf den ersten Blick sieht Binh gesund aus. Die 22-Jährige sitzt an einem niedrigen Tisch. Auf dessen Platte liegt ein Stofftuch. Sie schaut neugierig auf, mustert den Besucher, lächelt und sticht wieder mit der Nadel zwischen ihren Fingern durch den Stoff. Der grüne Faden zieht sich entlang des aufgezeichneten Blumenmusters. Ihre Lehrerin sagt: „Sie ist langsam im Kopf.“ Und als sie sich von ihrem Stuhl erhebt, fallen die verdrehte Körperhaltung und ihre Größe von nur 1,40 Meter auf. Binh ist Opfer des Vietnam-Kriegs, obwohl der bei ihrer Geburt seit 13 Jahren vorüber war. Ihre Eltern waren der Chemikalie Agent Orange ausgesetzt.

Im Vietnam-Krieg von 1965 bis 1975 kämpften die US-Soldaten gegen die Truppen des kommunistischen Nordvietnam, während sie im Süden in einen Guerillakrieg verwickelt wurden. Der Krieg war der erste, in dem gezielt die Natur vernichtet wurde. Das sagt die Vereinigung der Agent-Orange-Opfer (VAVA). US-Flugzeuge versprühten geschätzte 80 Millionen Liter Chemikalien, um den Dschungel zu entlauben und die Gegner sichtbar zu machen. Die Hälfte davon Agent Orange. Die US-Soldaten nannten es so, weil es in orangefarbenen Fässern angeliefert wurde. Das Entlaubungsmittel enthielt hochgiftiges Dioxin.

Binh lebt im „Dorf der Freundschaft“ in der Nähe von Hanoi. Das Dorf ist ein Hilfsprojekt für Agent-Orange-Opfer. 1988 wurde es von einem US-Veteranen gegründet. 120 Jugendliche leben dort. Sie werden unterrichtet und medizinisch betreut.

Manche, wie Binh, leiden unter vergleichsweise leichten körperlichen und geistigen Behinderungen. Andere sind blind oder taub. Wieder andere sitzen festgezurrt in Rollstühlen. Sie haben heftige körperliche Missbildungen. Ihre Köpfe sind wie aufgeblasen.

Nach dem Krieg erkrankten drei Millionen Vietnamesen, weil sie Agent Orange ausgesetzt waren. Die US-Armee hatte eine Fläche von rund 14 Millionen Hektar besprüht. Während 35 Jahre nach dem Krieg die Natur ihre kahlen Narben zeigt, lauert das Dioxin in der Erde und gelangt über den Nahrungskreislauf in die Menschen. Laut VAVA sind nach dem Krieg 200 000 Kinder mit Behinderungen geboren worden. Inzwischen ist die dritte Generation betroffen.

Vor zehn Jahren hat Binh in der Einrichtung eine neue Heimat gefunden. Weit entfernt von ihren Angehörigen. „Zu Hause ging es mir gesundheitlich schlecht, hier ist es besser“, sagt sie. Seit einem Monat jetzt lernt sie das Sticken. Vielleicht kann sie eines Tages damit Geld verdienen. Auch an einem Computerkurs nimmt sie teil, der ihre Chancen auf dem Arbeitsmarkt verbessern soll. Trotzdem sagt sie: „Ich denke nicht an die Zukunft, niemals.“ Sie hat Angst. Ihr Vater ist an den Folgen von Agent Orange umgekommen. Wenn auch ihre Mutter stirbt, wird Binh allein sein.

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Hinter den Reisfeldern (3): Die besten Noten als Ziel

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Wer an Vietnam denkt, erinnert sich an den Krieg damals oder an einen vergangenen Urlaub. Kaum aber jemand beachtet, wie dort ein kommunistisches Regime versucht, Marktwirtschaft mit den alten Traditionen zu verbinden. Blicke nach Fernost – eine Serie in fünf Teilen.

Mittagspause. An den Imbissständen am Straßenrand drängeln sich die Studenten. Ruhig liegt dagegen der Campus der Vietnamesisch-Deutschen Universität (VGU) in Ho-Chi-Minh-Stadt da. Die alleingelassene Wachfrau am Eingang bemerkt sofort, als ihr Long und Khai entgegen schlappen. Seit einem Jahr studieren die beiden 20-Jährigen Elektrotechnik. Einer von vier Studiengängen, die hier von 110 Vietnamesen belegt werden.

Dabei handelt es sich um Duplikate von Studiengängen, die es an den deutschen Partnerhochschulen der VGU bereits gibt. Auch deren Dozenten reisen an. Unterrichtet wird auf Englisch. Deutsch steht auf dem Lehrplan. Student Khai schätzt die internationale Ausrichtung: „Davon werde ich in meinem späteren Beruf profitieren.“ In zwei Jahren wird er einen deutschen Bachelor-Abschluss in den Händen halten.

Gut gelaunt sitzt Wolfgang Rieck in seinem Büro im ersten Stock. „Im Grunde genommen bin ich ein vietnamesischer Beamter“, sagt der VGU-Präsident amüsiert. Seit 2008 wird die Hochschule vom Staat betrieben, nach deutschem Regeln. Das führt dazu, dass die VGU im diktatorisch regierten Vietnam unabhängig arbeiten kann. Der 67-Jährige bestimmt, was unterrichtet wird und von wem. „Bislang bin ich in keiner Weise beeinträchtigt worden“, sagt der frühere Präsident der Fachhochschule Frankfurt. Die Regierung gewährt den Spielraum, weil das Bildungssystem marode ist. Die VGU ist ein Experiment, das in wenigen Jahren von Vietnamesen fortgeführt werden soll.

Die Gebühr für ein Semester beträgt 590 Euro. Rund vier Monatslöhne für einen einfachen Arbeiter. Doch die Gesellschaft betrachtet Bildung als hohes Gut. Dazu kommt, dass die Menschen im Alter auf keine Rente hoffen können. „Die Familien legen sich krumm, damit ihre Kinder die bestmöglichen Schulen und Universitäten besuchen können“, sagt Rieck. Deswegen sei das Selbstverständnis der Studenten ein anderes. „Schwänzen oder faul sein gibt es nicht.“ Darauf angesprochen sagt Student Long, der Hotelmanager werden möchte: „Jeder Student sollte hart für das Studium arbeiten.“ Bei Khai geht der Eifer so weit, dass sein Abschluss einer der besten in der Region werden soll.


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Written by Fabian Schweyher

6. Oktober 2010 at 19:00

Hinter den Reisfeldern (2): Einsam in der Millionenstadt

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Wer an Vietnam denkt, erinnert sich an den Krieg damals oder an einen vergangenen Urlaub. Kaum aber jemand beachtet, wie dort ein kommunistisches Regime versucht, Marktwirtschaft mit den alten Traditionen zu verbinden. Blicke nach Fernost – eine Serie in fünf Teilen.

Mit ihrem Motorroller flitzt Thanh Nguyen durch den dichten Verkehr von Ho-Chi-Minh-Stadt (Saigon). Es ist quälend laut. Abgase verpesten die Luft. Menschen drängeln sich auf den zugestellten Gehwegen, als Thanh plötzlich durch eine Lücke an ihnen vorbeischießt, hinein in die Garage eines Neubaus, um anschließend abrupt zu parken. Sie hat es eilig. Die 27-Jährige mit den langen schwarzen Haaren ist auf dem Weg zur Arbeit. Nur noch das Treppenhaus nehmen, dann ist sie am Ziel.

Sie arbeitet für ein Versandhaus, das im Internet Büromaterial verkauft. Rund 70 Prozent der Vietnamesen leben auf dem Land. Doch immer mehr junge Vietnamesen wie Nguyen zieht es in die Großstädte. „Ich mag Ho-Chi-Minh-Stadt“, sagt sie. Vor zwei Jahren hat sie nach dem Studium ihr Dorf verlassen. Geld verdienen und Karriere machen – Ho-Chi-Minh-Stadt ist dafür der richtige Ort. Im Geschäftsviertel schießen Bürotürme in den Himmel, in denen sich internationale und einheimische Firmen einquartiert haben. Die Stadt wächst noch immer rasant, seit sich Vietnam in den 1980ern der Marktwirtschaft geöffnet hat.

Thanh Nguyen mag ihre Arbeit, mag das Zimmer, das sie sich mit einer Mitbewohnerin in der Sieben-Millionen-Einwohner-Stadt teilt. Doch: „Manchmal ertrage ich es nicht, dass ich so weit von meiner Familie entfernt bin“, sagt sie. Das Leben in der Familie ist ihr wie den meisten Vietnamesen äußerst wichtig. Geborgenheit, Fürsorge, Schutz, Sicherheit – für das gemeinsame Wohl stellen viele ihre Wünsche und Bedürfnisse zurück.

Während die Zugezogenen vom Land oft noch an den Traditionen festhalten, wollen viele junge Großstädter anders leben. Sie nehmen sich als Individuen wahr, nicht mehr als Mitglieder einer Gemeinschaft. Sie tragen westliche Kleidung, hören westliche Musik. Unverheiratete Paare wohnen zwar zumeist noch unter Vorwänden zusammen. Nachts aber sieht man in den Parkanlagen immer öfter Pärchen, die sich küssen. Noch vor fünf Jahren wäre das ein Unding gewesen. In einer Gesellschaft, die geübt ist, ihr Gesicht zu wahren.

In einer Nebenstraße

In einer Nebenstraße

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Written by Fabian Schweyher

6. Oktober 2010 at 18:54

Hinter den Reisfeldern (1): Die alten Regeln

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Wer an Vietnam denkt, erinnert sich an den Krieg damals oder an einen vergangenen Urlaub. Kaum aber jemand beachtet, wie dort ein kommunistisches Regime versucht, Marktwirtschaft mit den alten Traditionen zu verbinden. Blicke nach Fernost – eine Serie in fünf Teilen.

Toai Ha Phan sagt nicht viel, während seine Ehefrau und die drei erwachsenen Kinder miteinander tratschen. Der zierliche Bauer mit dem weiten weißen Hemd und der kurzen Hose lässt sich einfach neben ihnen auf einem Plastikstuhl am Holztisch nieder. Er hat feine Gesichtszüge und kurze weiße Haare. Wenn Toai etwas beisteuern möchte zu dem Geplauder, dann tut er das ohne Hektik, würdevoll. Er muss nicht laut sprechen, um gehört zu werden. Er muss auch nicht auf die ungeschriebenen Gesetze hier pochen. Als das Mittagessen auf dem Tisch steht, schauen alle verstohlen in seine Richtung. Mit 57 Jahren ist Toai der älteste Mann in der Familie. Vor ihm dürfen sie nicht mit dem Essen beginnen. Zügig, aber nicht hastig, seziert er mit seinen Essstäbchen den Fisch, den er aus dem nahe gelegenen Teich mit den dicken Schlieren im Wasser geangelt hat. Dann führt er den ersten Happen zum Mund.

Vater, Mutter, Sohn, Tochter. Jeder hat in der vietnamesischen Gesellschaft seine Rolle auszufüllen. Das jahrhundertealte Gefüge hat seinen Ursprung im Landleben mit den Traditionen und wird bis heute auch von den alten Anbaumethoden bestimmt. Gerade die Arbeit auf den pflegeintensiven Reisfeldern macht es nötig, dass alle Familienmitglieder zusammenarbeiten. Jeder an seinem Platz. Früher hing von der Ernte schließlich das Überleben ab.

Die Familie Phan lebt in einem Dorf nahe der Stadt Rach Gia im Süden Vietnams. Im Vergleich zu den Hütten der Nachbarn besitzt sie ein geradezu luxuriöses Heim. Zwei Zimmer, eine Küche. Alles überdacht mit Wellblech. Neonröhren an den Wänden, darunter zwei Holzbetten. Bambusmatten liegen darauf. Während im Fernseher ein Fußballspiel flimmert, brummt in der Ecke ein alter Computer mit Internetanschluss.

Auf dem staubigen Weg vor dem Gebäude scheppert der Reisverkäufer mit seinem Fahrrad vorbei. Aus einem Lautsprecher, den er an der Lenkstange hängen hat, verkündet eine verzerrte Tonbandstimme das Angebot. Sie übertönt das Kläffen der Hunde, das aus wenigen Metern Entfernung herüberschallt. Sie sind in einem an den Seiten offenen Schuppen festgekettet. Sie bewachen die Schweine: den Lebensunterhalt der Familie. Vater Toai verkauft das Sperma der Eber, mit dem Säue künstlich befruchtet werden. Umgerechnet sieben Euro erhält er jedes Mal dafür. Rund 150 Euro im Monat. Ein gutes Geschäft. Im Schnitt verdienen die Menschen auf dem Land monatlich 100 Euro.

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Written by Fabian Schweyher

6. Oktober 2010 at 18:42

Hintergrund: Das Land Vietnam

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  • Regierungsform Sozialistische Republik, in der die Kommunistische Partei die alleinige Macht besitzt.
  • Geografie Vietnam ist mit 330.000 Quadratkilometern Fläche beinahe so groß wie Deutschland. Nachbarländer sind China, Laos und Kambodscha. Die Küstenlinie erstreckt sich auf rund 3500 Kilometer.
  • Bevölkerung Rund 86 Millionen Menschen leben in Vietnam. Ein Viertel davon ist jünger als 14 Jahre. Rund die Hälfte der Vietnamesen sind Buddhisten, jeder zehnte bekennt sich zum Christentum.
  • Wirtschaft Das durchschnittliche Einkommen lag 2009 bei 815 Euro pro Kopf. Vietnam ist ASEAN-Mitglied.
  • Geschichte Im 19. Jahrhundert ist Vietnam Teil der Kolonie Französisch-Indochina. 1945 wird die Unabhängigkeit ausgerufen, es kommt zum Krieg. Neun Jahre später ziehen sich die Franzosen geschlagen zurück. Das Land wird geteilt. Während die USA Südvietnam unterstützen, regieren im Norden die Kommunisten. 1964 greifen die Vereinigten Staaten Nordvietnam an, um eine angebliche Ausbreitung des Kommunismus zu verhindern. Nach einem brutal geführten Krieg verlassen 1973 die US-Einheiten wieder das Land. Nachdem Südvietnam kapituliert hat, folgt 1976 die Wiedervereinigung. Mit in den 1980ern eingeleiteten Reformen öffnet sich Vietnam langsam der Marktwirtschaft.
Die vietnamesische Flagge

Die vietnamesische Flagge weht im Wind.

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Written by Fabian Schweyher

6. Oktober 2010 at 17:45

Gesichter einer Stadt: Mit Herrn Duong durch Hanoi

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Jeden Tag sitzt Tuong Duong an einem See im Zentrum Hanois und übersetzt Bücher. Jeden Tag sieht er, wie rasant sich die Metropole verändert. Im Oktober wird sie 1000 Jahre alt.

Die Augen von Tuong Duong sind schwach, doch dem 78-Jährigen bleibt nicht verborgen, wie schnell sich Hanoi verändert. Um die offensichtlichsten Zeichen der Zeit zu sehen, müsste er nur von seiner Parkbank aufblicken. Über den Baumwipfeln wachsen in der Entfernung neue Hochhäuser in den Himmel. Der Hoan-Kiem-See dagegen, der friedlich vor Duong ruht, ist schon immer da gewesen. Er liegt im Zentrum der Stadt, die Baumringen gleich um ihn gewachsen ist.

Wie jeden Nachmittag hat sich der Übersetzer am Ufer niedergelassen. Auf seinen Schenkeln ein Notebook. Neben ihm aufgeschlagen „Lolita“ von Vladimir Nabokov. Er übersetzt es Wort für Wort aus dem Englischen bis das Werk irgendwann auf Vietnamesisch zu lesen sein wird. Um ihn herum streichelt der Wind die Blätter der Bäume, das Wasser kräuselt sich. Auf einer kleinen, mit Gras bewachsenen Insel erhebt sich sanft der Schildkrötenturm. Der Legende zufolge soll Kaiser Le Thai To einst mit einem Zauberschwert die chinesischen Besatzer vertrieben haben. Nach dem Krieg begegnete er dem Schildkrötengott, der sich das Schwert schnappte und im See verschwand. Wenige Meter hinter dem alten Mann flitzen die Motorroller um den See. Junge Männer preschen über den Asphalt.

Langsamer ist eine Frau unterwegs, hinter der sich drei kleine Kinder auf dem Sitz drängen. Gekonnt umkurvt sie das Moped eines Arbeiters mit gelbem Schutzhelm und blauer Kluft. Die Metallstangen, die er geladen hat, ragen weit über sein Zweirad hinaus. Während die Motoren knattern, heulen immer wieder die Hupen auf. „Früher war es leiser in der Stadt“, sagt Duong auf Englisch. Noch in den 1980ern waren seine Landsleute mit Fahrrädern in der Stadt unterwegs. Erst als sich das kommunistische Vietnam der Marktwirtschaft öffnete, wurden Mopeds langsam erschwinglich.

Hanoi ist eine Stadt mit langer Geschichte. Genau 1000 Jahre wird sie am 10. Oktober alt. Zehn Tage soll gefeiert werden. Gebäude und Straßen wurden extra hergerichtet. Schließlich soll alles prächtig aussehen, wenn eine Parade mit 12.000 Menschen durch die Stadt zieht.

Bereits zur Zeit der Stadtgründung war die heutige Altstadt ein wichtiges Handelszentrum. „Sie ist das Herz von Hanoi“, sagt Duong. Wie in einem Ameisenhaufen wuseln die Menschen über die schmalen Straßen und die noch engeren Gassen. Geschäft an Geschäft. Das Viertel wird auch als „36 Gassen“ bezeichnet, weil sich hier im 13. Jahrhundert 36 Gilden ansiedelten. Das ist an den Straßennamen ablesbar, die nach den Waren benannt sind, die es damals zu kaufen gab. So arbeiteten die Hutmacher in der Hang-Non-Straße, während in der Hang Vai die Schneider lebten. Heutzutage müssten einige Straßen wohl umbenannt werden, weil nur noch Souvenirs für Touristen in der Auslage liegen – von Buddhafiguren bis gefälschten Markenkleidern.

Am Abend erleidet die Altstadt ihren täglichen Verkehrsinfarkt. An den Kreuzungen verstricken sich die Motorbikes zu Knäuel, während immer weitere Fahrzeuge hineinpressen. Zentimeter für Zentimeter. Lärm. Abgase. Gleichzeitig öffnen auf den Gehwegen die Imbissbuden und die Bierstände. Hier sitzen diejenigen, die schon Feierabend haben. Während die einen mit Holzstäbchen ihre Nudelsuppen in sich hineinschaufeln, stoßen die anderen mit süffigem Bier an.

Auf seiner Parkbank hat Tuong Duong eine Pause eingelegt. Aus einem Behälter, den er mitgebracht hat, gießt er sich grünen Tee ein. Dann widmet er sich wieder seinem Buch. „Ich liebe meine Arbeit“, sagt er lächelnd. Mehr als 50 Bücher hat er übersetzt. Schlager wie „Sakrileg“, aber auch Werke von Camus, Musil und Sartre. „Meistens übersetze ich Bücher von Autoren, die ich sehr liebe“, sagt er. Einer davon ist Günter Grass, dessen „Blechtrommel“ er im Jahr 2000 bearbeitet hat. In Vietnam werden Bücher ausländischer Autoren selten in der Landessprache veröffentlicht, weil es an Übersetzern fehlt. Duongs erfolgreichste Arbeit ist „Vom Winde verweht“, das in einer Millionenauflage gedruckt wurde. „Wir Vietnamesen kennen uns mit Kriegen aus“, erklärt er sich den Erfolg.

Der lange Weg zur Unabhängigkeit, die gewonnenen Kriege gegen die Kolonialmacht Frankreich und gegen die USA spielen eine gewichtige Rolle im Selbstverständnis der Vietnamesen. Auch an Duongs Leben spiegelt sich die Geschichte: Mit 17 Jahren brach er die Schule ab, um für die Unabhängigkeit zu kämpfen. Selbst im Krieg ließ ihn sein Faible für Literatur nicht los. „Wenn wir einen französischen Stützpunkt eingenommen hatten, plünderten wir ihn“, erinnert er sich. „Ich habe die Bücher genommen.“ Während des Kriegs gegen die USA arbeitete er dann als Journalist für die Nordvietnamesen.

Erbeutete Panzer, Düsenjäger und Hubschrauber sind im Hof des Armeemuseums wie Trophäen ausgestellt. Am Eingang verkauft eine Soldatin in schnittiger grüner Uniform die Eintrittskarten. Sie blickt streng und ist doch freundlich. Das passt zum Museum: Im Inneren ist der Kriegsverlauf aus Sicht des kommunistischen Regimes dargestellt. Im Erdgeschoss verkauft eine vietnamesische Kaffeehauskette Getränke – eine exakte Kopie der US-Firma Starbucks.

Eine lange Schlange hat sich vor dem Mausoleum von Ho Chi Minh aufgereiht, der 1945 die Unabhängigkeit des Landes ausgerufen hatte. Die meisten Vietnamesen verehren ihn als kommunistischen Vordenker, als Vater der Nation. Wer seinen Leichnam sehen will, muss sich am Eingang in eine Gruppe einreihen lassen, immer zwei Besucher nebeneinander. Dann geht es im Gänsemarsch zum Gebäude – eine Mischung aus griechischem Tempel und Panzerschrank. Die Aufpasser achten penibel darauf, dass sich die Gruppe respektvoll verhält. Als sich ein junger Chinese zu laut mit seiner Begleiterin unterhält, weist ihn ein Gardesoldat leise, aber ruppig zurecht. Und plötzlich tritt man in eine dunkle Kammer, in der der beleuchtete Leichnam Ho Chi Minhs aufgebahrt ist. Entgegen seinem Wunsch, nach dem Tod eingeäschert zu werden, hat das Regime seine Leiche einbalsamieren lassen.

Für Ausländer hat der Personenkult abstrakte Züge. Ho Chi Minhs Konterfei ist in Hanoi auf vielen Plakaten und Häuserfassaden zu sehen. In TV-Sendungen wird er von jungen Frauen besungen. Doch das Hanoi zur Zeit von Ho Chi Minh hat wenig mit der heutigen Hauptstadt und ihren 6,5 Millionen Einwohnern gemein. Westliche Firmen haben sich angesiedelt. Bürotürme prägen das Stadtbild. Edelboutiquen bieten Luxuswaren an. In Vietnam scheint die Marktwirtschaft die kommunistischen Grundsätze überrollt zu haben. „Die jungen Vietnamesen wollen beruflich erfolgreich sein“, sagt Tuong Duong. Die Vergangenheit und die kommunistischen Ideale, mit der sich ältere Vietnamesen identifizieren, verblassen. „Das ist eine normale Entwicklung“, sagt der 78-Jährige.

Wenn die Nacht früh am Abend einbricht und Hanoi in ein Lichtermeer verwandelt, füllt sich der Park um den Hoan-Kiem-See. Familien sitzen zusammen. Die Alten machen Aerobic, die Jungen schmusen im Halbdunkeln. Etwas abgesondert tanzen Halbstarke Breakdance. Einer von ihnen wirbelt über den Boden, während ein Parkwächter herablassend zuschaut. Die Lichter der Stadt spiegeln sich auf dem Wasser und verschwimmen. Tuong Duong packt seine Sachen. Am nächsten Tag wird er wieder kommen.

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Written by Fabian Schweyher

21. September 2010 at 21:42

Ein Schwabmünchner serviert Weizen in Vietnam

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Ho-Chi-Minh-Stadt/Schwabmünchen. Wer die große Glastür öffnet und das Restaurant „Cepage“ in Ho-Chi-Minh-Stadt (dem früheren Saigon) betritt, der lässt die drückende Hitze und den Lärm der Metropole hinter sich. Im Reich des Schwabmünchners Andreas Ertle ist das Licht gedämmt, leise schwebt Musik durch den Raum. Es ist angenehm kühl. Der 40-Jährige mit den kurzen Haaren kommt aus der Küche, setzt sich an die Bar und bestellt ein Weißbier. Ein Stück Heimat in Vietnam.

Seit drei Jahren arbeitet Ertle als Manager und Küchenchef für das Edellokal, das im teuren Geschäftsviertel der Stadt liegt. Kein Zufall. Mit dem „Cepage“ sollen Geschäftsreisende und Ausländer angesprochen werden, die in dem südostasiatischen Land arbeiten. In der schillernden Wirtschaftsmetropole mit ihren sieben Millionen Bewohnern sollen es rund 30 000 Menschen sein. „Früher sind sie zum Essen in die Restaurants der Hotels gegangen, in denen sie gewohnt haben. Es gab ja keine Alternativen“, sagt Ertle.

Beim Blick auf die Speisekarte fallen zuerst die für Vietnam hohen Preisen auf, dann die Gerichte. Entenbrust, Fish and Chips, Risotto, Pasta und Wiener Schnitzel stehen darauf. Zubereitet werden die Gerichte mit wenig Fett – wegen der tropischen Außentemperaturen. Die vietnamesische Küche mit ihren vielen Fleisch-, Reis- und Nudelgerichten bleibt jedoch außen vor. Die Speisekarte ist auf Ausländer zugeschnitten.

Während draußen vor der Glastür die knatternden Motorroller vorbeijagen, hat es sich im Inneren ein Pärchen in den roten Polstersesseln bequem gemacht. Er im Hemd, sie im dunklen Kleid. Sie turteln, lächeln. Auf dem quadratischen Holztischchen vor ihnen stehen zwei Tassen Kaffee. Hinter ihnen erhebt sich eine Regalwand. Die zahlreichen Weinflaschen darin geben dem „Cepage“ – französisch für „Traube“ – seinen Namen. Zwei Männer um die 40 Jahre betreten das Lokal. Kurze Hosen, Poloshirts, zwei Frauen im Schlepptau. Sie unterhalten sich auf Englisch. Als Ertle die Männer sieht, begrüßt er sie auf Deutsch. 80 Prozent seiner Kundschaft kennt er.

Begonnen hat Ertles Karriere als Koch mit der Lehre im Augsburger Hotel „Riegele“. „Die Arbeit hat mir Spaß gemacht. Da war Action“, erinnert er sich. Anschließend kochte er in Frankreich, Österreich, USA, Japan, Russland. Wie Ertle berichtet, waren die Umgangsformen in den Küchen oft ruppig. Eine prägende Erfahrung, die sich nicht mit der feinfühligen vietnamesischen Mentalität verträgt. „Da muss man aufpassen“, sagt er, angesprochen auf seine 30 Angestellten. „Die sind sofort beleidigt.“

In Vietnam habe er gelernt, gelassen zu bleiben. So lagert etwa der Plan, zusätzlich eine Cocktailbar zu eröffnen, vorerst in der Schublade. Als er es noch eilig damit hatte, war das Vorhaben im letzten Moment geplatzt: Ein passendes Gebäude war gefunden, die Absprachen getroffen. Doch der Mietvertrag wich laut Ertle davon erheblich ab. „In Vietnam brauchst du Geduld.“ Seine Erfahrung: Pläne lassen sich nicht schnell umsetzen.

Wenige Wochen ist es her, dass der 40-Jährige seine Eltern in Schwabmünchen besucht hat. Selten führt ihn sein Weg nach Deutschland. Andreas Ertle: „Wenn ich ein paar Tage freihabe, dann fliege ich nach Singapur, Hongkong, Manila. Das liegt ja alles um die Ecke.“ Und in Japan könne er ja auch Ski fahren.

Auch langfristig zieht es ihn nicht zurück. „Mit Europa bin ich durch“, sagt er. In Vietnam sei es einfacher, ein Geschäft zu betreiben und wegen der niedrigen Löhne der Angestellten auch wirtschaftlich lukrativer. Deswegen ist die Arbeit nicht weniger. Rund 15 Stunden verbringt er jeden Tag in der Gaststätte. Erst spät in der Nacht öffnet Ertle dann die gläserne Eingangstür, schließt hinter sich das „Cepage“ zu und tritt hinaus auf die Straßen von Ho-Chi-Minh-Stadt, hinaus in die Hitze der Nacht.

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Andreas Ertle führt in Ho-Chi-Minh-Stadt das Restaurant "Cepage".

Andreas Ertle führt seit drei Jahren in Ho-Chi-Minh-Stadt das Restaurant "Cepage".

Eine große Weinauswahl gibt dem "Cepage" - französisch für "Traube" - seinen Namen.

Eine große Weinauswahl gibt dem "Cepage" - französisch für "Traube" - seinen Namen.

Written by Fabian Schweyher

21. August 2010 at 07:34

Nähen für 80 Euro im Monat

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Ho-Chi-Minh-Stadt. Die Selbstmordserie in einer chinesischen Fabrik machte Schlagzeilen: Seit Anfang des Jahres haben sich zehn Angestellte des Elektroriesen Foxconn das Leben genommen. Die Arbeiter warfen dem Unternehmen, das für Apple das iPhone herstellt, unerträgliche Arbeitsbedingungen und zu geringe Löhne vor. Apple ist nur eines von vielen westlichen Unternehmen, das wegen der niedrigen Arbeitskosten in Asien produzieren lässt. Mit den Konditionen dort konnte die deutsche Textilindustrie auf Dauer nicht mithalten. Auch die einstige Textilhochburg Augsburg verlor in den vergangenen Jahrzehnten Zehntausende Arbeitsplätze an die Billiglohnkonkurrenz. Viele Aufträge gehen heute nach Vietnam, das sich zu einem der größten Exporteure von Kleidungsstücken entwickelt hat.

Ortstermin nahe Ho-Chi-Minh-Stadt: Für Mai Ngoc Nguyen läuft die Stoppuhr. Sie steht vor einem kurzen Metallrohr, das an einer Stange befestigt ist. Darunter liegt ein Holzkasten mit 50 Glaskugeln. Schnell schnappt sich Mai eine Murmel mit der rechten Hand, lässt sie durch das Rohr in die wartende linke Hand fallen. Mit ihr wandert sie wieder flink in den Holzrahmen, während die rechte Hand nach der nächsten Kugel greift. Die 29-Jährige ist schnell, doch nicht schnell genug. Erst wenn sie alle Kugeln in weniger als 44 Sekunden schafft, darf sie mit der nächsten Übung weitermachen. „Es dauert zwei Tage, bis die Auszubildenden ihre Fingerfertigkeit so weit verbessert haben“, sagt Ausbildungsleiter Hien Khac Pham vom vietnamesischen Kleidungshersteller Protrade Garment.

Das Staatsunternehmen mit Sitz nahe Ho-Chi-Minh-Stadt (Saigon) ist eigenen Angaben zufolge einer der größten Bekleidungsproduzenten des Landes. Jeden Monat stellen 2800 Arbeiter knapp eine Million Hemden und Hosen her. Zu den Kunden zählen bekannte Firmen wie H&M. Auch der deutsche Hersteller Olymp lässt dort Hemden produzieren – rund 1,2 Millionen allein in diesem Jahr.

Neonröhren tauchen die Werkhalle, in der 600 Arbeiter an Tischen sitzen, in helles Licht. Nähmaschinen rattern zwischen Händen, die fliegend schnell Hemden zusammennähen. Was um die Arbeiter herum geschieht, scheinen sie nicht wahrzunehmen. Nach Angaben von Protrade Garment werden sie neben einem Grundgehalt nach Stückzahlen bezahlt. Wer schneller arbeitet, verdient mehr. Ein Arbeiter erhält so zwischen 90 und 120 Euro im Monat – gearbeitet wird 48 Stunden in der Woche.

Durchschnittlich zahlen die Hersteller nach Angaben des vietnamesischen Textil- und Bekleidungsverbands Vitas nur 80 bis 90 Euro monatlich. Vielen Unternehmen fällt es schwer, ihre Arbeiter zu halten. „Die Gehälter steigen nicht so schnell wie die Lebenshaltungskosten“, sagt Vitas-Funktionär Hung Gia Pham. „Die Menschen können von dem Geld nicht leben.“

Der Wirtschaftszweig steht vor einem strukturellen Problem. Zwar lieferte Vietnam 2008 Kleidungsstücke im Wert von neun Milliarden US-Dollar ins Ausland und war damit laut Welthandelsorganisation der siebtgrößte Exporteur weltweit. Allerdings basiert der Erfolg allein auf den günstigen und geschickten Arbeitskräften, die viele Firmen nach Vietnam locken.

Doch niedrige Arbeitskosten bieten auch andere asiatische Länder. Und es geht noch billiger: So liegt in Bangladesch der gesetzliche Mindestlohn für Textilarbeiter bei 20 Euro. Damit vietnamesische Firmen keine Aufträge an die Konkurrenz verlieren, ist für Verbandsmann Pham klar: „Das Einkommen der Arbeiter kann nicht steigen, ansonsten sterben die Unternehmen.“ Der einzige Ausweg: Mehr Ware in kürzerer Zeit herstellen. Neue Mitarbeiter werden bei Protrade Garment deswegen für eineinhalb Monate zur Ausbildung geschickt, damit sie ihre Fingerfertigkeit verbessern. Gleichzeitig werden mehr Maschinen eingesetzt. Doch Geschäftsführer Phoa Hong Le macht sich keine Illusionen: „Der Druck wird weiterhin groß sein, die Kosten und Gehälter zu senken.“ Angst vor der Zukunft habe er dennoch nicht. „Der Preis ist nicht alles“, sagt er und will Billigkonkurrenten mit höherwertiger Ware auf Distanz halten.

Ein neuer Absatzmarkt könnte vor der eigenen Haustür entstehen. Nach Vitas-Angaben gibt ein Vietnamese durchschnittlich 25 Euro jährlich für Kleidung aus – Tendenz steigend. Zum einen, weil die 86 Millionen Vietnamesen wegen der rasanten wirtschaftlichen Entwicklung des Landes vermutlich in der Zukunft mehr Geld in den Taschen haben werden. Zum anderen, weil immer mehr junge Menschen moderne Kleidung tragen wollen.

Protrade Garment hat deswegen eine Firma gegründet, die trendige Kleidung und eigene Modemarken herstellt. „In fünf Jahren wird sich Vietnam zu einem wichtigen Markt entwickelt haben“, schätzt Le und verweist auf China. Dort lehnen die Hersteller inzwischen immer öfter Aufträge westlicher Firmen ab, weil sie dank der großen Nachfrage für den eigenen Markt produzieren.

Für den Fall, dass westliche Firmen eines Tages doch in Länder mit günstigeren Arbeitskräften abwandern sollten, hat Protrade Garment 2004 in Kambodscha eine eigene Billigalternative aufgebaut. Die ist wegen der Wirtschaftskrise zurzeit stillgelegt, doch der Standort an der Grenze zu Vietnam bleibt Teil der Firmenstrategie. „Wenn die Kunden Vietnam verlassen sollten, können wir schnell die Produktion verlagern“, sagt Geschäftsführer Phoa Hang Le. Der Lohn eines Textilarbeiters in Kambodscha beträgt durchschnittlich rund 40 Euro.

Seit einer halben Stunde ist Mai Ngoc Nguyen damit beschäftigt, die Glaskugeln möglichst schnell durch das Metallrohr zu befördern. 55 Euro zahlt ihr Protrade Garment während der Ausbildung monatlich. Danach wird die Schulabbrecherin aber immerhin mehr Geld verdienen als bei dem Elektronikunternehmen, für das sie zuvor als Aushilfe gearbeitet hat.

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In dieser Halle werden Hemden hergestellt.

In dieser Halle werden Hemden hergestellt.

Die Arbeiter werden nach Stückzahl entlohnt.

Die Arbeiter werden nach Stückzahl entlohnt.

Diese Übung soll die Fingerfertigkeit verbessern.

Diese Übung soll die Fingerfertigkeit verbessern.

Written by Fabian Schweyher

29. Juli 2010 at 10:42

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Knallhart nachgefragt in der Holzklasse

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Die Ventilatoren an der Decke ziehen ihre Kreise. Der Fahrtwind schießt durch die geöffneten Fenster in den Zugwagen und lindert doch nicht die Hitze. 40 Grad im Schatten. Wie jeden Tag. Schweißperlen rollen an meinen Schläfen hinunter, fließen in den Rahmen der Brille. Auch am Rücken ziehen sie ihre Bahnen. Dunkle Flecken auf dem hellen Hemd. Mein Körper arbeitet. Ich hasse das Schweißbad. Umso mehr verwundert mich der Anblick der Vietnamesen auf den Holzbänken. Normalerweise jammern sie über die hohen Temperaturen, im ständigen Widerspruch zu ihrer makellosen Erscheinung. Jetzt bedeckt eine Schweißschicht viele der erschöpften Gesichter. Es muss wirklich heiß sein.

Es sind rund 100 Kilometer von Ninh Binh bis zur Hauptstadt Hanoi. Knapp drei Stunden Fahrt. Viele Studenten sitzen in den Wägen, die auf dem Weg nach Hause sind. Vor wenigen Tagen haben die Semesterferien begonnen. Kurz vor jedem Halt schreien die Schaffner den Namen der Station durch den Zug. Natürlich verstehe ich kein Wort.

Ich bin der einzige Ausländer in der Holzklasse. Mir gegenüber sitzt eine ältere Frau. Sie mustert mich neugierig. Mit meinem kläglichen Vietnamesisch und ihrem kläglichen Englisch werfen wir uns Satzfragmente zu. Auch dieses Mal bekomme ich die für Vietnamesen scheinbar wichtigste aller Fragen gestellt: „Are you married?“. Und gleich hinterher: „Where is your girlfriend?“ Dazu muss man wissen: Für Vietnamesen ist die Familie die wichtigste Institution im Leben – von Anfang bis Ende. Sie ist das Element, das Halt und Glück verspricht. Viele Vietnamesen stellen ihre Wünsche und Bedürfnisse hinter das Glück in der Familie. So überrascht es mich nicht, dass die Frau zum Schluss wissen will: „Are you happy?“. Nach meinem Ja lehnt sie sich beruhigt zurück.

Noch zehn Kilometer bis zum Bahnhof von Hanoi. Die Häuserschluchten rücken näher, immer näher – bis es nicht mehr enger geht. In zwei Metern Abstand ziehen nun an beiden Seiten die Häuser vorbei. Der Spalt ist so eng, dass kein Sonnenstrahl das Innere des Zuges erreicht. Der Blick aus dem Zugfenster ist wie ein Logenplatz im Kino: In den Hauseingängen sitzen die Bewohner Hanois, schauen Fernsehen, schlafen. Andere schrauben an Motorrollern, kochen oder lesen mit nacktem Oberkörper Zeitung. Dem Zug schenken sie keine Beachtung.

Diese Menschen leben ganz nah an dem Zuggleis.

Hier fahren mehrmals am Tag Züge durch.

Zwischen Häusern und Zugstrecke ist wenig Platz.

Zwischen Häusern und Strecke ist wenig Platz.

In kurzen Abständen kreuzen Straßen das Gleis.

In kurzen Abständen kreuzen Straßen das Gleis.

Written by Fabian Schweyher

16. Juli 2010 at 05:53